LANDAU. „lm Fall einer Triage muss ein Krankenhaus immer abwägen. In dieser Haut will ich nicht stecken“, erklärt Christian Dawo, Geschäftsführer des südpfälzischen Clubs Behinderter und ihrer Freunde (CBF). Seit den Bildern aus Norditalien im Frühjahr 2020 kennt und fürchtet die Welt diesen Begriff: Triage. Er beschreibt die bittere Aufgabe, die medizinischem Personal im Katastrophenfall zufällt, wenn intensivmedizinische Ressourcen nicht mehr für alle Patienten ausreichen. Dann wird darüber entschieden, wer eine Chance auf Überleben bekommt und wer nicht.
Bisher sei Triage in Deutschland glücklicherweise noch kein Thema gewesen, sagt Dawo. Unter den südpfälzischen Mitgliedern des CBF gebe es jedoch sicherlich Menschen, die bei einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems massiv gefährdet wären. Die Triage berühre hochethische Fragen, sagt Dawo, „unter Umständen auch: Welchen Nutzen hat ein Mensch für die Gesellschaft?“
Laut den Leitlinien der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) soll allein die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient eine Weiterbehandlung überlebt, ausschlaggebend sein. Fragen wie die nach einem „gesellschaftlichen Nutzen“ — wie auch immer sich dieser bei Menschenleben bemessen sollte — dürfen in „die Entscheidung nicht einfließen, genauso wenig wie etwa das Alter, die Grunderkrankung oder gar der Impfstatus.
Auswählen muss medizinisches Personal dennoch stets nach individueller Beurteilung. Die Lebensrealität von Menschen mit Behinderung wird von solchen ohne Behinderung häufig zu negativ eingeschätzt. Ihnen werden also möglicherweise schlechtere Chancen eingeräumt, als sie tatsächlich haben. Die Gefahr einer unbewussten Benachteiligung im Triage-Fall hat nun auch das Bundesverfassungsgericht gesehen. Es verpflichtete den Bundestag vergangene Woche dazu, rechtlich bindende Regelungen zu treffen, um Gleichbehandlung sicherzustellen.
„Unser Klinikum begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts“, sagt Stefan Vonhof, Ärztlicher Direktor des Klinikums Landau-SÜW. „Die etwaige Notwendigkeit einer Triage stellt für medizinisches Personal eine enorme emotionale und moralische Herausforderung dar“, bestätigt der Mediziner weiter. Mit Blick auf die aktuelle Pandemieentwicklung rechnet er aber nicht damit, dass sich das Klinikum schon bald mit der Triage befassen muss. „Die Lage in unserem Klinikum ist aktuell stabil.“
Das Aufkommen der hochansteckenden Omikron-Variante sorgte Ende des vergangenen Jahres dennoch für weltweite Verunsicherung und ließ die Sorge vor dem Ernstfall auch hierzulande wachsen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kratzt jedoch nur an der Oberfläche der Probleme, vor denen chronisch Kranke und behinderte Menschen durch die Pandemie Stehen. Dirk Bliemeister, langjähriges Mitglied und Vorsitzender des CBF, hält den medialen Wirbel um den Triage-Beschluss für übertrieben. „Der Beschluss verbessert die Situation überhaupt nicht“, sagt er. Man spiele schwarzer Peter; das Bundesverfassungsgericht solle über Grundsätzliches entscheiden, könne aber den Einzelfall nicht beleuchten. Dennoch: Der Beschluss soll Menschen mit Behinderung besser schützen.
Das eigentliche Problem liegt laut Bliemeister jedoch ganz woanders: in einem Gesundheitssystem, das die ärztliche Versorgung auch ohne Triage nicht für alle gewährleisten könne. Bliemeister selbst ist seit vielen Jahren querschnittsgelähmt, seit 2019 außerdem an Krebs erkrankt. Alle fünf Wochen muss sein Nierenkatheter im Krankenhaus gewechselt werden, sonst droht schlimmstenfalls eine tödliche Blutvergiftung. Die letzte Behandlung sei zwei Tage vor dem Termin vom Krankenhaus abgesagt worden. Es gehe nicht bloß um ihn. Insbesondere im ländlichen Bereich sei die Situation katastrophal.
Bereits im Herbst sprachen Mediziner in diesem Zusammenhang von einer „latenten“ oder „weichen“ Triage, die deutschlandweit insbesondere in Hochinzidenzgebieten schleichend eingetreten sei: Eine intensivmedizinische Auslastung, unter der die gewohnte Qualität der Gesundheitsversorgung leidet, wie es Dirk Bliemeister am eigenen Leib erfahren hat. Verbesserungen in dieser Hinsicht sind durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht zu erwarten.
Auch das Klinikum Landau-SÜW verschiebe aktuell Eingriffe, erklärt Vonhof. „Dringliche oder notfällige Therapien werden weiter wie „gewohnt vorgenommen.“ Was dringlich ist und was nicht, das werde im individuellen Fall auch im Gespräch mit niedergelassenen Behandlern entschieden.
Quelle: Rheinpfalz/Pfälzer Tageblatt vom 06.01.2022